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»Ein Mann – eine Stimme«
Brüssel, Donnerstag, 10. April 1902  

In Belgien und anderen europäischen Staaten steht die Etablierung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Mittelpunkt der politischen Bestrebungen linker Parteien. Von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen sind generell Frauen und in vielen Ländern auch die besitzlosen Männer.

Die belgischen Sozialisten proklamieren den Generalstreik für die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts.
Schon am ersten Tag des Ausstands kommt es in der belgischen Hauptstadt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen der Streikenden mit Polizei und Armee, die sich in den folgenden Tagen auf Gent, Lüttich, Brügge, Löwen und Namur ausdehnen. Am 18. April berät das Parlament über die von den Sozialisten beantragte Revision der Verfassung als Voraussetzung für das allgemeine und gleiche Wahlrecht, doch wird diese mit 84 zu 64 Stimmen abgelehnt. Im Anschluss verstärkt die klerikale Regierung den militärischen Druck. Um ein weiteres Blutvergießen zu verhindern, entschließen sich die Sozialisten am 20. April, den Generalstreik abzubrechen.
Die Initiative unter der von Sozialistenführer Emile Vandervelde proklamierten Losung »Ein Mann – eine Stimme« ist Ergebnis eines Kompromisses zwischen Sozialisten und Liberalen. Der rechte Flügel der Liberalen hatte lange gezögert, ehe er beschloss, sich das Ziel der Arbeiterpartei zu Eigen zu machen. Die Sozialisten ihrerseits opferten diesem Bündnis die Forderung nach dem Frauenstimmrecht. Gemeinsam versuchten beide Parteien auf parlamentarischem Weg eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die für eine Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts notwendig ist. Trotz bürgerlicher Mehrheiten und auch angesichts drohender Unruhen lehnte die Regierung jedoch eine Verfassungsänderung ab. Begründet wurde dies mit der unsicheren Lage im Land und der Gefahr des Kollektivismus. Beobachter sahen die Ursache für die Haltung der Regierung in dem Ziel der Konservativen, die Arbeiterbewegung im Keim zu ersticken.

  
Wahlrecht  

Die Wahlrechtsfrage nimmt in Belgien seit 1890 eine zentrale Stelle ein. Bereits damals wurde das Land von Streiks erschüttert, da die versprochene Wahlrechtsreform hinausgezögert wurde. 1893 erfolgte die Verabschiedung des Wahlgesetzes, das allen Belgiern über 25 Jahren das Stimmrecht zuerkannte. Familienvätern über 35 Jahren, vermögenden und gebildeten Bürgern erteilte man nach dem sog. Pluralvotum jeweils zwei oder auch drei Stimmen. Im »Simplicissimus« karikiert Bruno Paul die Vorgänge in Belgien: »Der Himmel hat es glücklich gefügt, lieber Bruder im Herrn, dass die Arbeiter nicht so viel zu fressen haben wie wir, sonst hätten sie den Generalstreik länger ausgehalten.«
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